back to WRITINGS

Interview: The Autopoiesis of Architecture,
Ralf Ferdinand Broekman und Olaf Winkler im Gespräch mit Patrik Schumacher
published in: build -  Das Architekten-Magazin, 2/2011

Thema:
Patrik Schumacher, The Autopoiesis of Architecture, Volume 1 – A New Framework for Architecture, John Wiley & Sons, London 2011

 

Dein jüngst erschienener Band „The Autopoiesis of Architecture. A new Framework for Architecture“ zielt auf die Entwicklung eines neuen architekturtheoretischen Ansatzes. Woran mangelte es den bisherigen Ansätzen?

P.Sch.:
Es mangelt vor allem an theoretischer Ambition. Es gibt bisher keinen vergleichbaren Versuch einer umfassenden Diskursanalyse und gesellschaftstheoretischen Begründung von Architektur. Die aktuelle Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Reflexion wird zur Zeit von niemandem sonst gesehen. „Grand theory“ ist ja ganz allgemein (trotz Luhmann) immer noch verpönt, vor allem im Angelsächsischen Raum. In der Architektur ist darüberhinaus das Interesse an gesellschaftstheoretisch fundierter Selbstvergewisserung abgeklungen seitdem die Architektur mehr und mehr von privaten Investoren beauftragt wird, die ihre Entscheidungen nicht öffentlich zu rechtfertigen brauchen. Damit ist die Architektur von ihrer gesammtgesellschaftlichen Legitimationsschuld entbunden. Das erklärt wohl den Mangel an selbst-kritischer, theoretischer Ambition.
Das ändert nichts daran, daß eine vitale, produktive Architektur, die ihr eigenstes Langzeitinteresse (unabhängig von unmittelbaren Einforderungen von aussen) begreift, mehr denn je, einer gesellschaftstheoretischen Selbstreflektion dringend bedarf, und zwar auf einem neuen Reflektionsniveau.
Man scheint sich durchweg damit abgefunden zu haben, daß die Pluralität der Auffassungen, Ansätze und Stile als unüberwindbare Tatasche hinzunehmen ist. Oder man glaubt sie sei ein Wert im Sinne einer schützenswerten Meinungsvielfalt. Wie auch immer, eine Erwartung oder Aussicht auf einschneidende, konsensbildende Argumente gibt es nicht. Gegen so etwas glaubt man sich verwahren zu können, nach dem Motto: Leben und Leben lassen. Die totale kreative Freiheitzügugkeit und Toleranz, die alles skeptische Fragen zunächst suspendiert, war eine sinnvolle Reaktion auf den Bankrott der Modernen Architektur. Wenn man nicht weis wie es weitergeht, und wenn man noch nicht einmal weis nach welchen Kriterien man Entwürfe beurteilen soll, dann muss zunächst einmal alles erlaubt sein. Jetzt aber, nachdem sich längst eine neue, tragfähige, konstruktive Tendenz ausgezeichnet hat, ist eine andere, schärfere, unnachgiebigere Diskussionskultur angesagt, die präzise, konstrultive Beiträge verlangt. Jetzt geht es darum die Erkenntnisse der vorherigen Diskussionsphase in Richtungsentscheidungen und konstruktive Arbeit umzusetzten.
In dem Prozess des kollektiven „Brain-storming“ der siebziger und achziger Jahre hatte die Rezeption der post-strukturalistischen Philosophie die produktive Unruhe noch weiter geschürt. Der Post-strukturalismus aber bietet keinen archimedischen Punkt an dem ein neuer, konstruktiver Ansatz ansetzen könnte. Es gibt keine Gesellschaftstheorie bei Derrida, Lyotard, Baudrillard etc. Auch nicht bei Deleuze & Guattari. Die Philosophie von Deleuze & Guattari ist ein Umschlagsplatz für neuere Denkschemata und Ordnungsideen aus Wissenschaft und Politik. Sie wurde gleichsam die Schule, in der die neuere Architektur die Logik und Lektionen der post-fordistischen Netzwerkgesellschaft gelernt hat. Die quasi-geometrischen Abstraktionen mittels denen Deleuze & Guattari in Mille Plateaux das neue Welt- und Gesellschaftsbild vermitteln sind geradezu für Architekten gemacht. Hier gibt es eine Fülle von analogisch verwertbaren Anregungen, die in der Avant-garde Architektur der frühen neunziger Jahre zu konstruktiven Schlüsselkonzepten wurden: Rhizom, Assemblage, abstrakte Maschine, weicher/gekerbter Raum etc. Seitdem wird kummulativ an diesen Konzepten gearbeitet, und zwar mit neuen, kongenialen, komputergestützen Methoden. Die Zeit der wilden Suche ist also längst vorbei. Dem entsprechend haben die Apparate der Theorieseminare den Anteil der Philosophiebücher ausgedünnt und mit Software-manuals ersetzt. Die historische Richtung dieser Avant-garde stimmt. So kann die Architektur der post-fordistischen Netzwerkgesellschaft aussehen. An einer systematischen, gesellschaftstheoretischen Aufarbeitung dieser Tatsache hatte es bis dato gemangelt. Diese Aufarbeitung   -  The Autopoiesis of Architecture -  soll zugleich eine Selbstvergisserung sein, die einschneidende, konsens-stiftende Argumente liefert. Kontroversen sind zu erwarten under erwünscht. Ein tragfähiger Konsens kann nur auf scharf ausgefochtenen Kontroversen aufbauen.

Deine Ausführungen basieren zu weitgehendem Maße auf Erkenntnissen der Systemtheorie. Warum Systemtheorie in der Untersuchung von Architektur?

P.Sch.:
Da gibt es mehrere konvergierende Motivationen:
Luhmann’s theoretisches System ist konkurrenzlos was Systemtiefe und Systemumfang angeht. In dieser Hinsicht ist Luhmann’s System die einzige Alternative zum Marxismus. Bevor ich mich entschlossen hatte auf Luhmann’s Systemtheorie aufzubauen, hatte ich versucht meine Architekturausrichtung marxistisch zu begründen, im Sinne von Produktivkraftentfaltung. Dieser Gesichtspunkt ist für mich nach wie vor letztbegründend, auch fuer eine auf Kommunikation fokussierte Systemtheorie. Luhmann’s Systemtheorie konnte allerdings viele neue, detail-ergiebige Gesichtspunkte zuschiessen, und ist zudem politisch offerener. Hier finden sich alle kritischen Reflexionsschleifen, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat aufgegriffen und verarbeitet, inklusive der für den Architekturdiskurs der letzten 25 Jahre entscheidenden Einflüsse von Derrida und Deleuze & Guattari. Darüberhinaus bietet Luhmann’s Systemtheorie viele intellektuelle Anknüpfungspunkte für den gegenwärtigen Diskurs der Architektur-avantgarde des Parametrismus. Verständnis und Akzeptanz für Luhmann’s System ist hier vorbereitet durch das gemeinsame Interesse an Komplexität, Kybernetik, Selbstorganisation, Evolutionstheorie etc.
„The Autopoiesis of Architecture“ liefert ein theoretisches System, daß den Architektudiskurs als Funktionsystem der Gesellschaft (im Sinne Luhmann’s) rational rekonstruiert. Die Diskursstrukturen der Diziplin werden detailliert beschrieben und vor dem Hintergrund einer klaren Konzeption der spezifischen, gesellschaftlichen Funktion von Architektur und Design expliziert. Meine Formel lautet:  Die gesellschaftliche Funktion von Architektur/Design ist die adaptiv-innovative Ordnung und Re-stabilisation gesellschaftlicher Interaktionsmuster mittels räumlich-morphologischer Rahmung („framing“).
Es handelt sich hier um eine kritische Rekonstruktion der aktuellen Diskursstrukturen der Architektur. Wie bei allen Reflektionstheorien der Funktionssysteme (Juris Prudenz, Politische Theorie, Wissenschaftstheorie, Pädagogik, Medientheorie etc.) entsteht hier auch ein Führungsanspruch. Der Parametrismus kodifiziert Axiome einer architektonischen „best-practice“, im Kontext der Restrukturiering der Gesellschaft von einer nationalstaatlich ausgerichteten, fordistischen Massengesellschaft hin zu einer globalisierten, post-fordistischen Netzwerkgesellschaft. Dieser letzte Punkt geht auch gesellschaftstheoretisch wieder über Luhmann hinaus. Ich knüpfe hier an die Postfordismusdebatte an, die wiederrum marxistischer Provenienz ist.

Welche Rolle spielt der Begriff der Autopoiesis?

P.Sch.:
Der Begriff der Autopoiesis ist ein Grundbegriff der Luhmannschen Systemtheorie. Die Emphase, die ich auf den Begriff lege, hat auch damit zu tun, daß sich damit die endlos fruchtlose Debatte über die Autonomie der Architektur klären lässt. Die Formel hier lautet: Adaptive Umgebungsoffenheit mittels selbstreferentieller Geschlossenheit. Die Einsicht hier ist, daß eine kompetente architektonische Reaktion auf soziale Anforderungen und Bedingungen keine ad hoc Reaktion sein kann. Unmittelbarkeit funktioniert hier nicht. Ein kompetentes Eingehen auf Anforderungen und Bedingungen ist nur in einem autonomen Expertendiskurs möglich. Ein direktes Eingreifen von Klienten oder Politikern kann nur zu Kurzschlüssen führen, die nicht in der Lage sind alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen. Problemlösungen auf der Höhe des geschichtlich erreichten Niveaus können nur im Spezialdiskurs erarbeitet werden, unter Anleitung der hierfür gewachsenen und bewährten Diskursstrukturen. Dies gilt unabhängig davon ob die Rationalität dieser Diskursstrukturen bis ins Detail expliziert reflektiert werden oder nicht. Selbstreferentielle Schliessung ist hier auf eine spezifische Funktion hin ausgerichtet. Sie erlaubt den Aufbau und die Anwendung einer komplexen, spezialisierten Intelligenz, die sich einem evolutionären Selbstorganisations- und Entwicklungsprozess verdankt. Nur so kann ein soziales Kommunikationssystem sich über Alltagsweisheiten und spontane Gedankenblitze  hinausentwickeln. Dafür müssen Grenzen gezogen werden, die vor ungehobelten Querschüssen, groben Einmischungen und reaktionären Rückfällen schützen. Dem System muss die Freiheit (und die Zeit) zum Überlegen gegeben werden, um nach den eigenen, massgeblichen Kriterien und bewährten Methoden neue Probleme zu bewältigen, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und zunächst intern zur Diskussion zu stellen. Erst dann können kompetente Lösungsvorschläge sich der Kritik der Klienten stellen. Klienten und andere interessierte Beobachter kritisieren, aber sie dirigieren nicht. Kritik führt zu einer neuen Runde der Überarbeitung. Der Stift bleibt in der Hand des Architekten. Das gilt nicht nur für Einzelprojekte, sondern vor allem auch für globale Richtungsentscheidungen, d.h. für die Stilentwicklung der Architektur. Wenn die bisher angesetzten Prinzipien nicht mehr zu angemessenen Ergebnissen führen, muss grundsätzlich nach neuen Ansätzten, Arbeitsweisen und Wertmassstäben gesucht werden. Das kann niveauvoll nur innerhalb des autonomen Expertendiskurses stattfinden. Stilentwicklung ist autonome Angelegenheit der Autopoiesis der Architektur. Hitler und Stalin konnten hier nur destruktiv, nicht konstruktiv, intervenieren. Sie haben die Autopoiesis der Architektur suspendiert, und damit Architektur in ihrem Machtbereich zum Stillstand gebracht. Autopoiesis steht gegen Totalitarismus.

Eine der Thesen lautet: „Any attempt to integrate architecture and art, or architecture and science/engineering, in a unified discourse (autopoiesis) is reactionary and bound to fail.“ Dies rührt nicht nur an das Grundverständnis – wenigstens weiter Teile der Gesellschaft – von Architektur, sondern auch an das grundsätzliche Selbstverständnis einer Großzahl heutiger Architekten; es setzt eine neue Kategorisierung des Diskurses/Austausches zwischen den Disziplinen voraus. Inwieweit verlangt dies zugleich ein neues Selbstverständnis der erwähnten anderen Disziplinen, eine Re-Definition von deren gesellschaftlichen Aufgaben und Kommunikationsstrategien?

P.Sch.:
Daß meine Demarkationsthese an ein immer noch weitverbreitetes Verständnis von Architektur – sowie an ihr Selbstverständnis -  rührt, zeigt wie sehr die Evolution der semantischen Strukturen, und vor allem die explizite Reflektion, hinter den tatsächlichen Kommunkationszusammenhängen zurückbleiben. Der Begriff der Architektur als Kunst ist ein Anachronismus, der mindestens 80 Jahre überholt ist. Während der Übergang von Renaissance zu Baroque noch in Architektur und bildender Kunst parallel gelaufen ist, auch in Personalunion von Figuren wie Michelangelo und Bernini, hat z.B. der Surrealismus keine Entsprechung mehr in der Architektur. Die Diskurse haben sich seitdem immer mehr voneinander entfernt. Worüber hätten sich in den siebziger Jahren Joseph Beuys und Norman Foster unterhalten können? Sowohl die zugrunde liegenden Begriffe, als auch die Diskurskulturen sind inzwischen inkommensurabel. Es ist schlichtweg ausgeschlossen, daß sich Damien Hirst und Zaha Hadid auf einer Diskussionsebene begegnen ohne ihre je spezifischen Wertekriterien hinter sich zu lassen. Die Distanzierung ist vor allem von der Kunst ausgegangen. Sie hat sich von allen handfesten sozialen Aufgaben freigespielt. Was von den vormaligen Künsten zurückblieb ist jetzt Design, Produktdesign, Mode, Graphikdesign und Architektur. Die Designdisziplinen sind mit der Architektur diskusiv aufs engste verwandt und verwoben. Deshalb spreche ich auch immer wieder von der Autopoiesis von Architektur und Design. Die differentia specifica der Architektur  - hier folge ich Dirk Baecker -  ist, daß es dabei immer um die Etablierung der Unterscheidung von Innen und Aussen geht.
Die Aufspaltung von Design und Ingenieurswesen geht durch alle Designdisziplinen. Der Designaspekt ist überall klar vom Ingenieursaspekt abgegrenzt, auch personell. Der Diskurs der Ingenieure ist eine Welt für sich. Kunst, Architektur/Design, und Ingenieurswesen implizieren jeweils ganz andere, charakteristische Persönlichkeitsstrukturen; ein weiterer Indiz für die Inkommensurabilität ihrer jeweiligen Diskurse. Designer und Ingenieure müssen trotzdem zusammen arbeiten, genauso wie Politiker und Juristen; ebenso eine Paarung von heterogenen Milieux. Ich plädiere einfach dafür, diese empirischen Realitäten zu registrieren, um dann die Rationalität dieser Trennungen zu verstehen.
Diese Abgrenzungen lassen sich als funktionale Differenzierung verstehen. Die gesellschaftliche Funktion der Kunst ist es, die Welt mit möglichen Gegenwelten zu konfrontieren. Insbesondere bietet das gegenwärtige Kunstsystem eine Platform für ein fast uneingeschränktes Experimentieren mit neuen Formen der Kommunikation. Diese Platform wird auch von den Designdisziplinen genutzt, nicht zuletzt auch von der Architektur. Hier kann mit abstrakten Formen, digitalen Herstellungsprozessen, oder auch mit räumlichen Inszenierungen experimentiert werden, ohne daß mangelnde Funktionalität ein Auschlusskriterium ist. Es ist gerade umgekehrt: Funktionalität wird zum Auschlusskriterium im Kunstsystem. Im Kunstsystem gibt es weder einen Anspruch, noch eine Aussicht auf Funktionalität. An diesem Punkt scheiden sich Architektur und Kunst. Installationen von Avantgarde-architekten in Kunstgallerien sind somit doppeldeutig. Im Kunstsystem müssen sie provozieren und stimulieren. Um im Architekturdiskurs Anschluss zu finden, müssen sie, zumindest dem Anspruch nach, eine Aussicht auf zukünftige Funktionalität plausibel machen. Andere Designdisziplinen nutzen das Kunstsystem ähnlich. Das gleiche gilt für die Massenmedien, z.B. mittels Videokunst und Internetkunst.
Junge Avantgarde-architekten, die am Anfang ihrer Karriere im Kunstsystem Resourcen anzapfen, um ihre Experimente zu finanzieren und zu zeigen, müssen bald entscheiden welchem Diskurs sie leztendlich zugehören wollen. Im Kunstsystem gelten andere Erfolgskriterien. Es gibt keine Beispiele von Doppelkarrieren mehr. Die Karrieren schliessen sich gegenseitig aus. Das gleiche gilt zwischen Architektur und Ingenieurwesen. Calatrava’s Werk hält den Kriterien einer rein ingenieursmässigen Kritik nicht stand. Die Trennung der Diskurse ist eine gute Voraussetzung für eine hochkarätige, arbeitsteilige Zusammenarbeit, nach dem Motto Offenheit durch Schliessung. Gerade der Parametrismus hat ein grosses Interesse an enger Zusammenarbeit mit Ingenieuren, eben weil er programmatisch die Kapazität entwickelt hat, formal auf differenzierte Datensätze aller Art einzugehen. Statische Differenzierung und umweltabhängige Differenzierung werden als willkommene Mittel der architektonischen Artikulation eingesetzt, nach architektonischen Kriterien, die sich von der gesellschaftlichen Funktion der Architektur ableiten lassen.

Deine Darlegungen schließen eine Neu-Bewertung von „style“ ein – ein Begriff, der zu den vielleicht missverstandensten im Kontext von Architektur zählt. Vor dem Hintergrund einer Epoche, die als durch die Synchronizität einer Vielzahl (oft wenig tiefgreifender) Stile geprägt gilt: Wie ist der Begriff zu verstehen, welche Relevanz hat er für Architektur?

P.Sch.:
Der Stilbegriff muss zunächst vom Stigma der Oberflächlichkeit befreit werden. Die Stile, die ich meine sind epochale Kommunikationsstrukturen. Der Begriff ist seid 180 Jahren (seid  Heinrich Hübsch’s Artikel von 1828 In welchem Style sollen wir bauen?) ein entscheidender Reflektionsbegriff der Architektur, ein Begriff, der seitdem eine grosse innovative Schubkraft entwickelt hat. Entsprechend ist der Stilbegriff ein zentraler Begriff in meinem System. Der Begriff ist hier wie folgt verortet: Stile sind Programme, die die spezifischen, binären Kodierungen der Architektur   -  funktional vs unfunktional und formal ausgereift vs formal unausgereift  -  operationalisieren, d.h. mit konkret anwendbaren Kriterien versorgen. Diese Kodierungen müssen jeweils neuen historischen Bedingungen angepasst werden. Deshalb gibt es Stilentwicklung. Avantgardestile sind Entwurfsforschungsprogramme, die ähnlich den Paradigmen in der Wissenschaft, kollektive, kummulative Forschung ermöglichen. Kodierungen sind die wertmässige Umsetzung der Leitunterscheidung der Disziplin. Die Leitunterscheidung von Architektur und Design ist die Unterscheidung von Form und Funktion. Sie bildet die Unterscheidung von System und Umwelt im System ab. Form ist Systemreferenz. Funktion ist Weltreferenz. Stile definieren sowohl ein formales Repertoire als auch Verständnis und Umgang mit Funktion. Soweit zur systematisch-theoretischen Rekonstruktion des Stilbegriffs innerhalb meiner Theorie der architektonischen Autopoiesis. Meine Theorie der Stile unterscheidet passive, aktive und aktiv-reflektive Stile. Seit der Renaissance gibt es aktive Stile und seid 180 Jahren gibt es die Möglichkeit einen aktiv-reflektiven Stil zu entwickeln. Ich unterscheide auch epochale Stile von transitorischen und subsidiären Stilen. Diese Unterscheidung hilft uns die Stilvielfalt der letzten 30 Jahre einzuschätzen. Ein epochaler Stil wie z.B. der Modernismus kann viele subsidiäre Stile haben, wie z.B. Neue Sachlichkeit, Rationalismus, Brutalismus, Metabolismus, High-Tech, Minimalismus etc. Transitorische Stile sind relative kurzlebige Übergangsstationen zwischen epochalen Stilen, z.B. Art Nouveau und Expressionismus beim Übergang von Historismus und Modernismus, oder Postmodernismus and Dekonstruktivismus beim Übergang vom Modernismus zum Parametrismus.
Der Stilbegriff ist innerhalb der Architektur vielfach angegriffen worden. Viele Architekten verwahren sich schlicht gegen jedwede Kategorisierung. Sie wollen ihre Optionen offenhalten. Ich glaube das ist eine Illusion, Opportunismus, oder einfach Unfähigkeit. Ein tragfähiges epochales Paradigma für eine effektive Gegenwartsarchitektur muss explizit zur Debatte gestellt werden und sollte sich (zunächst im architekturinternen) Wettbewerb durchsetzten. Der Stilbegriff lässt sich für ein solches substantielles Paradigma nach wie vor einsetzten. Weshalb sollte sich der Architekturdiskurs diesen Begriff verweigern? Mit Wittgenstein sollten wir uns fragen: Was gewinnen wir mit so einer Sprachbeschneidung? Wir würden damit auch einen wichtigen Begriff für die Kommunikation nach Aussen verlieren. Im allgemein-gesellschaftlichen Diskurs über Architektur und Design ist der Stilbegriff fast das einzige Beobachtungsschema, das die Aufmerksamkeit steuert. Nur die Ausrufung eines neuen Stils kann die allgemeine Öffentlichkeit für Architektur interessieren.

Welche wertekonstituierende und -kommunizierende Kraft hat Architektur im sozial-urbanen Kontext, und wie hat sich dies möglicherweise verändert?

P.Sch.:
Architektur ist Kommunikation. Das ist eine Grundthese der Theorie der architektonischen Autopoiesis. Deshalb lässt sich Architektur auch überzeugend im Rahmen von Luhmann’s Kommunikationstheorie theoretisieren. Gebaute Architektur ordnet und rahmt soziale Interaktion. Der gestaltete Rahmen ist eine Kommunikation, eine entscheidende Prämisse für alle weiteren Kommunikationen, die in dem hier oder dort lokalisierten und so oder so gestalteten Raum stattfinden. Die Plätze und Räume der Interaktion sind nicht-beliebig. Man kann nur richtig am richtigen Platz kommunizieren. Man muss ja auch erst die richtigen Interaktionspartner finden! Das geht nur in Raumordnungen. Damit die gesellschaftliche Interaktion immer genügend gut vorstrukturierte Interaktionsräume, an die sich systematisch anknüpfen lässt, vorfinden, deshalb werden Architekten und Designer engagiert. In der modernen, hochentwickelten, städtischen Gesellschaft findet alle Interaktion in Umgebungen statt, die durch das Nadelöhr des Architekturdiskurses mussten. Welche Kommunikation findet noch nackt in der Wildnis statt? Man sucht sich die angemessene Umgebung. Das System der Umgebungen zu ordnen und zu gestalten ist Sache der Architektur. Modedesign als Unterabteilung des Systems Architektur/Design ist auch wichtig. Man zieht sich den Gelegenheiten entsprechend an. Das sind Prämissen aller weiteren Kommunikation. Die Gestaltung dieser notwendigen Rahmen wird heutzutage immer mehr professionellen Experten überlassen. Diese Kommunikationen werden allerdings nicht den Designern zugeschrieben, sondern den jeweiligen Gastgebern/Institutionen.

Für kommenden Herbst ist Volume II von „The Autopoiesis of Architecture“ angekündigt: „A New Agenda“. Was werden die Kernpunkte dieser neuen Agenda sein?

P.Sch.:
Im zweiten Band wird die intellektuelle Aufrüstung der Disziplin konkretisiert, und zwar entlang der drei entscheidenden Dimensionen der architektonischen Entwurfsleistung: Organisation, Artikulation, Signifikation. Hierfür werden theoretische Resourcen aus Netzwerktheorie, Gestaltpsychologie und Semiologie herangezogen. Ich glaube mir ist hier eine theoretische Neubegründung der Architrektursemiotik gelungen. Daran arbeite ich bereits auch praktisch. Hier liegt für mich die eigentliche Kernkompetenz der Architektur, obwohl sie bisher nur intuitiv gehandhabt und noch kaum explizit reflektiert und theoretisiert wurde.
Des weiteren versuche ich an den Methodendiskurs der sechziger und siebziger Jahre anzuknüpfen. Ich glaube, die Zeit des wilden Experimentierens ist vorbei und jetzt geht es um das systematische Erarbeiten eine neuen Kompetenz, auf einem neuen Rationalitätsniveau. Dann gehe ich auf das Verhältnis von Architektur und Politik ein. Als Schlussstein des Werks liefere ich eine vertiefte, zukunftsorientierte Diskussion des Parametrismus.


back to WRITINGS